Original: Deutsch
Würzburg, den 26. April 1934
Sehr verehrter Herr Obervermessungsrat!
Ob Sie den Grund vermuten, warum Sie auf Ihr
ren lieben, langen Brief täglich einer Antwort ver-
geblich harren? Ich liege seit Monaten schwer darnieder,
führe ein schmerzliches, jammervolles Dasein. Gleich nach
Schulschluß mit Beginn der Pensionszeit setzte die
Sache ein, verschlimmerte sich, ich hielt es für Ischias
u. Rheuma, das freilich den ganzen Körper lähmte. Ich
wandte mich schließlich an einen Un.-Prof. Förster, einer
unserer Besten. Der diagonstizierte Neuritis u. zwar
Polyneuritis, eine Nervenlähmung, die den ganzen Körper
getroffen hatte. Schließlich musste ich 4 Wochen ins Julius-
spital - trotz aller modernen Heilmethoden keine Hilfe, zu-
gleicherzeit war Gelenk- u. Gliederrheuma über den ganzen
Körper gekommen. So liege ich seit März zu Hause, hilflos
wie ein Kind, muß gehoben, gesetzt werden. Wenn ich auf
die Füße an manchen Tage komme, schleife ich mich unter
Mühen u. Schmerzen von einem Divan zum anderen Sitzplatz,
den ich aber nicht einnehmen kann ohne Hilfe. Ein Arm
links ist ganz steif, den bringe ich seit Monaten nicht aus
dem Schultergelenk, der rechte geht etwas in die Höhe,
zeitweise funktioniert der Ratialisnerv f. Zeigefinger, Mittelfing. u. Daumen, der dann doch
wie heute die Feder halten lässt, stärkere, schwerere Gegen-
stände, kann ich nicht greifen, die Hände ballen sich nicht
mehr. Welche Arbeit ich meinen Leuten Tag u. Nacht mache,
können Sie Sich denken. Zum Glück bringen die un-
zähligen täglichen Vorkommnisse komische Situationen,
so daß man trotz der Schmerzen z. Lachen kommt als Säug-
ling der Familie, bei dem die Verjüngungskur zu weit
gegangen war. Es ist ein grauenvolles Dasein für mich. Ein
bißchen Knochengerüst liegt Tag u. Nacht ohne Unterbrechung
der Schmerzen herum. O die langen Nächte! - Meine Hoffnung
auf den Frühling, den ich vom Fenster sehen darf, hat mich
jetzt betrogen. Etwas besser wurde es; auf 7 - 10 Tage ein
guter Tag, an dem ich herumgehen, d. h. [...]ichen kann.
Es scheint, daß die Nervenlähmung oder entzündung, einen
langsamen Heilprozess durchmacht, wie sie sicher schon
längst im Schuljahr sich vorbereitet hat. Ich habe mir
meinen Ruhestand anders gedacht. Bitter war es für
mich am weißen Sonntag, wo unser Jüngster Lothar zur
1. Kommunion ging, vom Fenster aus seinen Eingang in die
Kirche mit ansehen zu müssen. Nun genug von meinem Jammer.
Es wird schon im Laufe des Sommers wieder aufwärts gehen. Die
Hoffnung habe ich nicht verloren. -
Unsere Jossi hat nach Absolv. des Lyc. den Eintritt ins Lehrerin-
nenseminar in Aschaffenburg erreicht. 4 Kl. Nach 3 Jahren ist
sie dann fertig. Sepp ist als Lehrer seit ein paar Tagen zum ersten-
mal nach der Königshöfer Gegend zur bezahlten Aushilfe ge-
holt worden (Großbardorf, in nächster Nähe des berüchtigten
Schloss Waltershausen. - So ist das Haus etwas leer geworden.
Resi arbeitet noch in den Kliniken, kommt aber auch bald
zum Verdienst, wenn auch geringen. - So wäre in meiner Familie
alles in Ordnung - abgesehen von meiner Armseligkeit.
Ich bin wirklich armselig, trotzdem ich eine schöne Zahl
von Jahren jünger bin, kann ich nicht mehr die geistige
Spannkraft aufbringen, die Sie mit glücklicherer Konstitu-
tion von der Vorsehung begabt, zeigen. Ich staunte über Ihr-
en langen Brief mit seinen Sorgen. Diese bitteren Erfahrungen
der Umschwungszeit speziell für unsere Pollichia haben
Ihnen die wohlverdiente Freude Ihres Alters u. auch die Ihrer
Frau Gemahlin geraubt. Hat Ihre rührende, unermüdliche Begei-
sterung für die Sammlungen in Tagen, wo andere der wohlver-
dienten Ruhe pflegen, meine Bewunderung u. Verehrung hervor-
gerufen, so bringt jetzt der gemeinsame Schmerz über das
Schicksal der Pollichia, für den ich nach manchen derben Erin-
nerungen früherer Jahre das nötige Verständnis habe, Sie jetzt
meiner Liebe näher. Doch wollen wir in alten Tagen die
Hoffnung nicht aufgeben, daß jede Zeit auch wieder Ihre
Männer findet, die vielleicht nach längeren Stockungen zu-
greifen u. sich begeistern. - Die politische notwendige Eini-
gung mußte nicht über Trümmer kultureller wichtiger
Einrichtungen gehen. Daß die neue Zeitschrift "Westmark"
zur politischen Aufrüttlung des Westens notwendig ist
u. gute Abhandlungen bringt, ist erfreulich. Aber warum
mußte die Zeitschrift, die die kulturellen Belange der
einzelnen Diszipline pflegte, dabei die Kosten zahlen?
Die Ereignisse bei der Hinrichtung der Pollichia blei-
ben mir unverständlich. Leider bin ich durch meine Er-
krankung noch nicht in die Lage gekommen, tieferen Einblick
in den internen Betrieb des hiesigen naturw. Vereins zu ge-
winnen. Darüber kann mir nur ein einziger Herr authen-
tische Auskunft geben. So viel ist sicher: der Verein besteht
mit alten Namen, hält seine zahlreichen Vorträge u. Exkursi-
onen weiter. Über seine inneren Sorgen kenne ich mich nicht
aus, besonders über Rückgang der Mitgliederzahl, Frage der
Unterkunftsmöglichkeit der riesigen Sammlungen in der Residenz,
wo man sie schon längst heraus haben möchte. Die Ver-
hältnisse der Pollichia lassen sich nicht vergleichen mit
denen der Würzburger Sammlungen. Hier eine Überzahl von
Helfern, Universitätsprofessoren, - Privatdozenten - Assistenten
Lehrern der Naturkunde der vielen Mittelschulen, sehr gute
Naturwissenschaftler aus dem gehobenen städt. Volksschul-
lehrer u. -lehrerinnenkreise, aus dem reichen Bürgerstand
verständige Helfer. Und das Ganze doch mehr oder weni-
ger unter dem geistigen Protektorate der Universität. Daher
vielleicht auch ihr Schutz bei dem Zusammenlegungsbestrebun-
gen. Aber Genaueres weiß ich bis heute noch nicht. Unter
jedem Falle ist mir das Dürkheimer Vorgehen milde
ausgedrückt eine unbedachte Voreiligkeit gewesen, deren
Folgen recht schmerzlich sind für alle, die ihre Kraft auf
die Rettung in gefährdeten Zeiten und wie Sie auf den glücklichen
[...] verwendeten. - Es ist mir recht ärgerlich, daß
ich bei meinem Zustand gar keinen Plan fassen kann
mich persönlich in Dürkheim mit Ihnen aussprechen zu
können. Hoffentlich ist es war, was mir tröstend ge-
sagt wurde, daß manchmal solche nervöse Störungen
schlagartig eintreten aber ebenso plötzlich aufhören. Möch-
te mir dieser Sommer noch die Freude bereiten!
Ich freue mich, daß dieser mein erster Brief in der
Krankheitszeit mir so gut gelungen ist, die Finger u.
das Handgelenk hielt aus, obwohl die Arme nur mit Mühe
in der Höhe des Tisches gehalten werden könne; die Beine
in Mantel u. wollene Decken. Närrische Stellage; Nun geht
es wieder ins Bett der Schmerzen.
Wenn Sie, verehrter Herr Obervermessungsrat, Ihren Jah-
ren unangenehmen Tribut zahlen müssen, trösten Sie Sich
damit, daß der Jüngere noch weniger verschont ist.
Nun wünsche ich Ihnen und Ihrer werten Frau Gemahlin
u. Frl. Tochter Wohlergehen und sende Ihnen allen meine
u. meiner Familie besten Grüße.
In Treue Ihr K. Hemmerich